Dominikanische Republik:
Mit Hüftschwung im Friseursalon
Musik gehört in der Dominikanischen Republik zum Alltag. Während die
Touristen stundenlang am Strand braten, tanzen die Einheimischen lieber
Merengue, Bachata und Salsa - gerne auch in der Autowaschanlage.
Es ist nicht so, dass es in Santo Domingo keine netten
Wohngegenden gäbe. Es gibt sie durchaus, und dort fahren polierte Wagen
mit dunklen Scheiben durch ruhige Straßen, vorbei an weißgetünchten,
heruntergekühlten Supermärkten und an cremefarbenen Wohnhäusern, die
Torre Stephanie oder Torre Doña Eva heißen und über die ein Ensemble aus
Gittern, Mauern und Sicherheitsmännern wacht. Und dann sind da noch
Viertel wie das Kleine Haiti, wie die Einheimischen ein paar Straßenzüge
im Zentrum der Hauptstadt nennen. Je näher wir kommen, desto mehr
neonerleuchtete Lotteriestuben prägen das Stadtbild, und immer stärker
riecht die feuchte Luft nach Koriander. Schon von weitem sind die
Salsarhythmen zu hören, die DJ Daniel lautstark aus den Boxen des
Warenhauses Plaza Paris kratzen lässt.
In einer dieser Marktstraßen, in der sich die
klapprigen Stände der Vogelzüchter und Blumenverkäufer, der Gemüse- und
Potenzmittelhändler drängen, liegt der Friseursalon, in dem Wilkin
arbeitet. Wilkin hat gerade Leerlauf, er sitzt auf einem Stapel grüner
Plastikstühle, die sich auf dem Trottoir türmen, und lässt lässig ein
Bein über die Armlehne baumeln. Die Haare trägt er dicht am Kopf zu
Zöpfchen geflochten und um den Hals eine schwere Silberkette, aber er
ist viel zu freundlich, als dass man ihn für einen Gangsta-Rapper halten
könnte. Hinter ihm erstreckt sich ein langgezogener, schlauchförmiger
Raum, manche Kunden haben Platz genommen, andere stehen herum und
unterhalten sich. Am Eingang ein großer Kühlschrank mit Presidente-Bier,
daneben ein futuristischer, silbergrauer Kasten, der sich auf den
zweiten Blick als Jukebox entpuppt. Ein Lied fünf Pesos, drei Lieder
zehn. Eine Jukebox im Friseursalon?
Papayas und Sternfrüche, Hip-Hop und Reggaeton
“Klar“,
sagt Wilkin, „warum auch nicht?“ Die Jukebox spiele glücklicherweise
auch dann, wenn keiner eine Münze einwerfe. Nur könne man dann eben
nicht aussuchen, was gerade läuft. Zur Wahl stehen Bachata, Merengue und
Salsa, auch Hip-Hop und Reggaeton. Musik, so lerne ich, während um uns
herum Papayas herangekarrt und Sternfrüchte sortiert werden, gehört hier
überall dazu, auch zu einem neuen Haarschnitt. Wenn er mal kurz tanzen
müsse, erklärt mir Wilkin, dann lege er die Schere für einen Moment
beiseite. Die Kunden, die fänden das völlig okay.
Wir werden unterbrochen von einem Durcheinander aus Schreien,
Dutzende Füße wetzen über den Beton auf uns zu. Bauarbeiter sprinten auf
den Flachdächern der Nachbarschaft johlend bis zur Kante, um den Tumult
zu überblicken. Und dann sehen wir sie auch, die Männer, die die Straße
herunterstürzen, dreißig mögen es sein, vierzig vielleicht. Zwei
Minuten später kehren sie zurück, an uns vorbei, langsamer diesmal,
dafür lauter. Menschen eilen herbei. Wilkin steht ohne jede Hektik auf,
um sich zu erkundigen, was passiert sei, während ich im Eingang des
Friseursalons Wurzeln schlage.
Kurz darauf weiß er Bescheid: „Jemand hat
einen Ohrring gestohlen, sie haben den Dieb gefasst“, verkündet er
unaufgeregt. Und was passiert jetzt mit ihm? „Ich schätze mal, sie haben
ihm ein paar verpasst und bringen ihn zur Polizei. So was kommt vor,
aber selten.“ Und dann reden wir weiter über die Arbeit und die Musik,
und ich erfahre noch, dass es Kinito Méndez ist, der gerade in der
Jukebox singt.
Aufspielen für den großen Diktator
Kinito
Méndez, der Mann des Merengue, wie er sich nennt. Der Mann jener Musik,
zu der anfangs nur die Armen tanzten. Die weiße Elite im Santo Domingo
des neunzehnten Jahrhunderts geißelte sie als bäuerlich und rückständig,
und als die städtische Oberschicht sich ihr um 1930 herum gerade erst
zögernd zu öffnen begann, putschte sich Trujillo an die Macht. Er erwies
sich als brutaler Diktator, er liebte sich selbst und die Musik. Sein
Ziel bestand darin, die verschiedenen Ethnien und Regionen zu einer
Nation zu einen, die sich als spanischstämmig verstand. Als Mittel dazu
kam ihm der Merengue gerade recht. Er wies große Orchester an, ihn zu
spielen, statt Akkordeons erklangen nun Bläser. Der Merengue war
jazziger, urbaner und europäischer geworden, Trujillo ließ sich
schmeichelnde Lieder schreiben und reiste mit Big Bands durchs Land.
Trujillo starb, Merengue blieb und ist der liebste
Rhythmus der Dominikaner. Das war er zumindest bis vor kurzem. Im August
nun war er auf dem alljährlichen Merengue-Festival in Santo Domingo nur
noch ein Genre unter vielen. Wer natürlich darüber empört war, waren
die Merengueros, und erst ihr Aufschrei sorgte dafür, dass Musiker wie
Kinito Méndez, der Mann aus der Jukebox, schlussendlich doch noch eine
Einladung erhielten. Ansonsten hielt sich der Protest in Grenzen, die
Neuausrichtung kam auch nicht ganz überraschend. Seit Beginn des Sommers
schon diskutieren die Zeitungen und Fernsehshows des Landes die Krise
des Merengue. Ihm fehlten neue Hits, klagt man da, und ihm fehlten neue
Themen.
Mädchen mit tiefen Ausschnitten, Jungen mit Muscle Shirts
Das
heißt aber nicht, dass man ihm entkommen könnte. Merengue läuft im
Radio und im Gemischtwarenladen, in der Diskothek und im Car Wash -
wobei es sich tatsächlich um das handelt, wonach es klingt:
Autowaschanlagen, allerdings mit Tanzfläche. Im D’Lujo Car Wash in
Bávaro etwa, im Osten des Landes, warten ein paar Autos und Motorräder
in der Nachmittagshitze auf Wasser.
Daneben ein gigantisches Dach aus
Palmblättern mit einer Leinwand, auf der eine halbnackte Frau mit ihrem
Hintern in die Kamera wippt. Gut hundert Leute sind da, von denen einige
am Rand sitzen, vor sich eine gemeinsame Flasche Presidente-Bier.
Tanzen ist Pärchensache, auch dort, wo Männer in der Überzahl sind. Ein
paar Mädchen mit tiefen Ausschnitten und Jungs im Muscle Shirt drehen
sich Hüfte an Hüfte auf dem Parkett, Berührungsängste haben sie nicht.
Etwas abseits an der Bar fordern die etwas älteren Gentlemen die etwas
älteren Damen auf. Tanzen kann in diesem Land jeder. Zumindest erzählt
man uns, dass hier jedes Neugeborene zuerst einmal geschüttelt werde, um
ihm den Rhythmus einzuverleiben.
“Salsa, coño“, schreit DJ Hansel vom Mischpult aus
in die Menge, „salsa, salsa, coño.“ Das Salsa-Set. Sieben Tage die Woche
legt er hier auf, von vier Uhr nachmittags bis drei Uhr morgens:
Merengue, Bachata, Salsa, Dembow, House. Bis zu achthundert Leute seien
manchmal hier, erzählt er, nicht ohne Stolz. Um zu tanzen und nach
Mädchen zu schauen. Und all das im Freien. In der Tür seiner kleinen
Kabine tauchen ständig kurzberockte Mädchen auf, und alle wollen sie
dasselbe von ihm: dass er „Soberbio“ spielt, jenes traurige Lied von
Romeo Santos: Liebesleid und ein geläuterter Mann. Bachata eben.
Die schmerzensreiche Musik der Landflüchtlinge
Herzensthemen
und Melancholie gehören zu diesem Genre, das die meisten Radiosender
dreißig Jahre lang ignorierten. Was heute zum Mainstream gehört, begann
wie der Merengue fernab der vornehmen Gegenden. Bachata war zunächst die
Gitarrenmusik, die die einfachen Leute der sechziger Jahre, die
Landbewohner und Landflüchtigen, in ihren Höfen und Gärten spielten.
Vielleicht sah es bei ihnen ein bisschen so aus wie
bei Frank, der hundertsechzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt in
La Cruz del Isleño wohnt, eigentlich nur eine Straßenkreuzung mit einer
Handvoll Häusern. Sein Garten beginnt mit einem windschiefen Drahtzaun,
dann ein Baum, der Limoncillos trägt. Frank schraubt dort an seinem
Motorrad herum, und eine seiner Töchter spielt mit dem Nachbarsjungen
Domino. Ab und zu pflückt Frank ihnen ein paar Limoncillos vom Baum, und
sie spucken die Kerne ins Gras.
Warum sind die Frauen nur so untreu?
Dann
läuft ein schwermütiges Lied, eine untreue Frau, sie solle ruhig gehen.
Wieder Bachata, diesmal die neue CD seines Namensvetters Frank Reyes.
Das Kabel ist gerade lang genug, und so hat Frank die riesigen Boxen
seiner Anlage vors Haus geschafft. Es ist zwar nicht groß, aber hübsch
mit seiner maisgelben Fassade, den weißen Fensterrahmen und den
sparsamen Ornamenten über der Tür. Es ist nur ein karibisches Holzhaus
und doch ein Postkartenmotiv!
Frank ist mein Entzücken nicht entgangen. „In den
Holzhäusern wohnen die Armen“, sagt er in einem Nebensatz, und in meinen
Ohren klingt diese Bemerkung weniger bitter als vielmehr beiläufig. Ob
ich mal seine Hähne sehen wolle? Er hält sie hinterm Haus, dort, wo der
maisgelbe Anstrich einem fahlen Senfgelb gewichen ist. Auch etliche
Küken sind darunter, aber die sind nicht wichtig. Was zählt, sind die
Hähne, Kampfhähne.
Um ihre Angriffslust zu demonstrieren, nimmt er
behutsam einen von ihnen aus dem Käfig und setzt ihn zu einem anderen.
Sofort plustern sie sich auf, flattern und hacken mit dem spitzen
Schnabel aufeinander ein, Zielrichtung Kopf. Frank trennt sie
rechtzeitig.
Das kleine Glück an der großen Kreuzung
Wenn
er sonntags manchmal zum Zweikampf in die Arena geht, tragen die Hähne
Sporen am Fuß. Blutig wird es immer, tödlich meistens auch. Wenn am Ende
der andere Hahn der Tote ist, reicht das vielleicht für die
Monatsmiete. Umgerechnet hundert Euro zahlen er und seine Frau für die
drei Zimmer, die sie mit ihren drei Töchtern bewohnen und in die Frank
nachts auch noch sein Motorrad stopft. Ein sichereres Auskommen bietet
der Imbiss, den die Familie auf der anderen Straßenseite betreibt. Ein
orangefarbenes Häuschen, zwei Tische, ein einziger Gast. Franks Frau
serviert ihm gerade Frittiertes, die Bachata aus dem Garten dringt bis
zu ihnen hinüber. 320 Euro werfe der Imbiss im Monat ab, sagt Frank, das
sei mehr, als er früher als Anstreicher in einem großen Hotel
verdiente.
Wer aber kommt in einer Gegend, die fast
ausnahmslos vom Strandtourismus lebt, an einer verlassenen Kreuzung
vorbei? Es seien die Zimmermädchen, Kellner und Gärtner, sagt Frank, die
von Higüey aus vierzig Kilometer weit zu den großen Hotels in Punta
Cana pendeln. Und diese Straße führt dorthin.
Das Mysterium der „Käsetablette“
Punta
Cana, das ist genaugenommen nur ein kleines Dorf, hinter dem die Insel
endet, aber weil dieser Name Palmen und Meer verheißt, schmückt sich ein
ganzer Landstrich mit ihm. Heute ist Punta Cana die beliebteste
Urlaubsregion des Landes. Neben zahlreichen kleineren Pensionen säumen
rund vierzig große Hotels die Küste. Groß sind nicht die Gebäude,
sondern die Gelände, auf denen sie stehen. Auf manchen von ihnen könnte
man ein ganzes Dorf unterbringen, mitunter verkürzt eine kleine Bahn die
langen Wege. Das „Royal Suites“ etwa gehört zu einer Anlage, auf der
sich in der Hochsaison viertausend Urlauber verteilen, dazu kommen
zweitausend Angestellte. Detailverliebter Luxus ist hier inklusive:
Stets sitzt ein Butler im bepflanzten Innenhof, auf dem Himmelbett im
Zimmer liegt eine Batterie verfügbarer Kopfkissen, daneben eine
Badewanne mit Whirlpool-Funktion, die Handtücher zu Schwänen drapiert.
Dem Anschein nach eine perfekte Welt, deren einziger Schönheitsfehler
das Wort „Käsetablette“ ist, das sich in die deutsche Speisekarte
geschlichen hat. Mit der Welt draußen hat das hier drinnen nichts zu
tun.
Obwohl, ein bisschen schon, denn an der Poolbar
läuft „Soberbio“, jene Pop-Bachata aus dem Car Wash. Die Lautsprecher
sind als Steine am Wegrand getarnt, die Anlage ist diesmal nicht bis zum
Anschlag aufgedreht. Romeo Santos singt so leise, dass man jedes Wort
eines texanischen Touristen verstehen kann, der im aufblasbaren
Schwimmreifen im Pool dümpelt und über das harte Leben zu Hause klagt.
„Soberbio“ geht sogar völlig unter, als ein Urlauber immer wieder
„Hello, cerveza!“ über den Tresen blökt.
Eine Polonaise zum guten Schuss
Besonders
die Deutschen verlangten nach Ruhe, sagt Octavio Subervi, einer der
Hotelmanager. Die Diskothek liegt dementsprechend am anderen Ende der
Anlage. Salsa, Merengue und Bachata wummern in die Nacht, und weil sich
nur ein paar Urlauberinnen zu tanzen trauen, halten die meisten
Animateure eine Animateurin im Arm. Viele Drinks später, als wummeriger
House den Paartänzen ein Ende setzt, überlassen sie den Touristen das
Parkett. Nun tanzen die Gäste, ein jeder für sich. Bis der
interkulturelle Kompromiss gefunden ist, dauert es noch eine Weile.
Dann, der Abend ist weit fortgeschritten, erklingt ein Remix von „Don’t
Worry, Be Happy“. Man einigt sich auf eine Polonaise. Und alle machen
mit.